Prof. Dr. Werner Klän zum Thema Staat und Kirche – Gehorsamspflicht und Widerstandsrecht
Am 10. Februar traf sich der Kirchenvorstand der evangelisch-lutherischen Mariengemeinde in der Selbständigen evangelisch-lutherischen Kirche zu einem Seminar mit Prof. em. Dr. theol. habil. Werner Klän, Lübeck. Thematisch stand das Seminar unter der Überschrift: „Das Verhältnis von Kirche und Staat. Widerstandsrecht und Gehorsamspflicht".
Das auf drei Stunden angelegte Seminar fand coronabedingt hybrid als präsentische und als internetgestützte Veranstaltung statt. Zunächst wurden die Bibeltexte Römer 13, 1-7, 1. Petrus 2, 13 - 17 und Apostelgeschichte 5, 29 in den Blick genommen. Nach Römer 13 und 1. Petrus 2 ist die Obrigkeit Diener Gottes. Im griechischen Urtext findet sich der Ausdruck diakonos theou – Diakon Gottes. Es ist Bürde und Verpflichtung des Staates, Diakon Gottes zu sein, so Klän.
Paulus hat beim Nachdenken über die Obrigkeit das antike römische Staatswesen mit dem Kaiserkult vor Augen. Der Kaiserkult war seinerzeit religiös geprägt. Im Staatsgefüge nahm der Kaiser nicht nur eine kultische Rolle ein, sondern wurde selbst als Gott verehrt. Heute würden wir wohl von einem autokratisch-totalitären Regime sprechen, wenn heute eine dem antiken römischen Reich ähnliche Staatsform existieren würde. Zur Zeit der Abfassung des Römerbriefs war Nero römischer Kaiser. Dennoch kann der Apostel Paulus schreiben, dass selbst diese Obrigkeit von Gott Autorität übertragen bekommen hat. Adressaten sowohl des Römerbriefes als auch des 1. Petrusbriefes sind Christen beziehungsweise die christliche Gemeinde.
Die Obrigkeit hat nach Römer 13 ordnende Funktion mit dem Ziel, ein friedvolles Miteinander in der Gesellschaft aufzurichten, zu erhalten und zu schützen. Das Recht muss geschützt werden, um dem Machtmissbrauch und der Gesetzlosigkeit zu wehren. Recht und Gesetz sind notwendig, da angesichts der gefallenen und sündigen Welt zur Aufrechterhaltung des Zusammenlebens unter den Menschen eine solche Notordnung geboten ist.
Aufgabe des Staates ist es, Gutes zu schützen und zu fördern sowie Böses einzugrenzen und zu bestrafen. Die Auffassung davon, was gut und was böse ist, kann zwischen Staat und Kirche, zwischen Obrigkeit und Christ differieren. Kritische Instanz ist das christliche Gewissen, welches an Gott und seinen unwandelbaren und heiligen Willen gebunden ist. Der Maßstab für Kirche, was gut und was böse ist, wird folglich nicht vom Staat definiert, sondern ist im heiligen Willen Gottes vorgegeben und dargelegt. Hält der Staat sich an das Recht, ist der Christ verpflichtet, ihm Gehorsam zu leisten. Als Beispiele nennt Paulus die Verpflichtung, Steuern zu zahlen und Zoll zu entrichten.
Der 1. Petrusbrief arbeitet detaillierter die unterschiedlichen Verantwortlichkeiten und Strukturen im Machtgefüge der Obrigkeit heraus. Neben dem schon bei Paulus im Römerbrief genannten Gottesbezug mit der Verhältnisbestimmung des Christen zu Gott ist für Petrus die Freiheit leitendes Motiv. Hierbei meint die Freiheit eben nicht Gesetzlosigkeit. Vielmehr hält der Christ die Gesetze, weil er in Christus ein freier Mensch ist. Es ist Freiheit in der Bindung an Christus. Ein Christ ist Knecht Gottes und darum frei.
Nach der Beschäftigung mit den Bibelworten, die sich vornehmlich mit der Gehorsamspflicht gegenüber dem Staat beschäftigten, wurde mit Apostelgeschichte 5, 29 das Widerstandsrecht in den Blick genommen. In welchem Fall muss man Gott mehr gehorchen als den Menschen? Hier wurde zunächst der Kontext des Bibelwortes beleuchtet. Der Hohe Rat ist auch Obrigkeit. Seine Kompetenz ist es, in Religionsfragen zu entscheiden. Der Anordnung des Hohen Rates widersetzten sich Petrus und die anderen Apostel und verkündigten öffentlich den gekreuzigten und auferstandenen Jesus Christus. Dies hatte zur Folge, dass sie verhaftet und belehrt wurden, nicht im Namen Jesu zu predigen. Es erging also ein Verbot der Christusverkündigung durch den Hohen Rat. Der Gehorsam gilt für Christen dem auferstandenen Herrn und seinen Weisungen. Das Wort des Petrus gilt dort, wo die Verkündigung von Jesus Christus durch staatliche Instanzen verboten oder eingeschränkt wird. Ein Gottesdienstverbot, wie es 2020 verhängt wurde, ist nicht tolerabel.
Im zweiten Teil beschäftigte sich der Kirchenvorstand unter der Leitung von Prof. Dr. Klän mit den Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche. Hier konzentrierten sich die Teilnehmer auf das ungeänderte Augsburger Bekenntnis aus dem Jahre 1530. Der 16. Artikel nimmt das Verhältnis von Kirche und Staat in den Blick. Gott regiert sowohl im geistlichen Bereich (Kirche) als auch im weltlichen Bereich (Staat). Beide Bereiche sollen jedoch nicht miteinander vermischt werden. Der Staat hat bestimmte Aufgaben, darf sich aber nicht in innerkirchliche Belange einmischen. Der kirchengeschichtliche Hintergrund war, dass die damaligen Bischöfe sowohl geistliche als auch staatliche Macht ausübten. Zuweilen vermengten sie beides miteinander. Mit der so genannten Zwei-Regimenten-Lehre wollte die lutherische Reformation dieser Fehlentwicklung entgegenwirken.
Ein Christ ist der Obrigkeit untertan und ihr gehorsam zu sein schuldig, sofern er dadurch nicht in Sünde fällt. Maßstab ist der heilige Wille Gottes, dargelegt in der Heiligen Schrift. In diesem Zusammenhang ist von zwei Arten von Gerechtigkeit zu sprechen. Es gibt zum einen die Gerechtigkeit vor Gott (passive Gerechtigkeit) und zum anderen die Gerechtigkeit vor den Menschen (aktive Gerechtigkeit). Die passive Gerechtigkeit geschieht am Christen durch das Werk des Dreieinigen Gottes, während die aktive Gerechtigkeit das Handeln des Menschen in der Welt gegenüber seinem Nächsten ist. Im 4. Gebot sind beide Formen der Gerechtigkeit miteinander verwoben, auch wenn sie strikt zu unterscheiden sind. Denn ein Christ nimmt verschiedene Rollen ein: als Familienmitglied, als Bürger in Gesellschaft und Staat, als Glied der Kirche. Es ist nun stets zu fragen, in welcher Eigenschaft er selbst gefordert und angesprochen ist. Gleichwohl gilt, dass ein Christ dem Willen Gottes in allen Bereichen verpflichtet ist.
Leitmotiv ist, dass die Gesetzgebung dem Willen Gottes zu entsprechen hat. Die Kirche hat gegenüber dem Staat ein Wächteramt. So ist die Kirche kritischer Begleiter des Staates und seiner Organe. Sie weist auf Fehlentwicklungen hin und tritt als Mahnerin auf. Gleichwohl hat die Kirche kein politisches Mandat, hat aber dem Staat den unwandelbaren Willen Gottes anzusagen. Der Wille Gottes gilt für alle gleichermaßen. Ein Christ hat an seinem Platz im kirchlichen, familiären, beruflichen und gesellschaftlichen Leben dem Recht zum Recht zu verhelfen.
Im dritten Teil des Seminars referierte Prof. Klän über den lutherischen Theologen Hermann Sasse, der schon 1932 einen wegweisenden Aufsatz mit der Überschrift „Vom Sinn des Staates" verfasst hat. Dort macht er deutlich, dass die Obrigkeit das Recht heilig halten und schützen müsse. Die Obrigkeit hat Autorität, solange sie Recht und Gerechtigkeit schützt. Wird das Recht in Unrecht verkehrt, ist die Möglichkeit zum Widerstand gegeben. Im weltlichen Bereich müsse es vernunftgeleitet zugehen, im dialogischen Gespräch sowie im Abgleich und Diskurs mit anderen.
Artikel 4 des Grundgesetzes schützt die Religionsfreiheit. Es ist ein hohes Gut, das der Staat zu respektieren hat. Die Kirche hat dem Staat gegenüber Zeugnispflicht, indem die Kirche dem Staat den unwandelbaren Willen Gottes vorhält und auf diese Weise ihr Wächteramt gegenüber dem Staat ausübt. Darum gibt es nur eine kritische Begleitung des Staates und keine Neutralität ihm gegenüber. Gleichwohl hat die Kirche kein politisches Mandat und hat sich auch gegenüber dem Staat stets zu fragen, ob sie eine Grenze überschreitet. So ist ein selbstkritischer Blick der Kirche nach innen gleichfalls nötig. Der Staat hingegen ist gebunden an das Recht. Gottesdienstverbote, die es 2020 flächendeckend gegeben hat, sind klar als Übergriffigkeit des Staates zu werten. Ebenso ist die Be- und Verhinderung der seelsorgerlichen Begleitung Kranker und Sterbender ein Akt des Übergriffs in den Verantwortungsbereich der Kirche. Im Zusammenhang mit den herausfordernden Zeiten stellt Dr. Klän fest, dass Kirche zuweilen das Kreuz zu tragen habe. Auch kann sie nicht alle erreichen mit ihren Angeboten, weil sie sich der Vernunft verweigerten. Es gelte gleichzeitig aber auch die Achtung vor der Gewissensentscheidung des Einzelnen im Blick zu behalten. Gott stelle mit diesen Herausforderungen unserer Tage die Kirche auf die Probe. (MB)